ich habe dieses Thema eröffnet, weil sich bestimmt Fragen oder Bemerkungen, die über die Biographie hinausreichen und nicht so recht den einzelnen Abschnitten zugeordnet werden können, ergeben. Hier kann man dann nach Herzenslust diskutieren.
---------------------------------------------------- Schmetterlinge sind keine Insekten - sie sind fliegende Blüten (Robert A. Heinlein)
Spannend fand ich eigentlich die Frage, wie sich diese außergewöhnliche Frau, die de facto seit den Nürnberger Rassegesetzen als "jüdischer Mischling" galt und zudem mit einem Regime kritischen Historiker verheiratet war, in der NS-Zeit diesen einzigartigen Status aufbauen konnte. Wie konnte sie tagtäglich derart an ihre physischen und psychischen Grenzen gehen, wie dieses Regime mit ihrer Arbeit an kriegsrelevanten, flugtechnischen Entwicklungen noch unterstützen? Hatte sie nie Angst, gab es niemals Gewissenskonflikte für sie?
An verschiedenen Stellen im Buch werden einige dieser Dinge angerissen (meist aus dem Munde von Zeitzeugenberichten und ausführlicher in ihrem Stockholmbericht), doch ohne jemals im Focus von Brackes Betrachtung zu sein, was einem zunächst unbefriedigend erscheint. Das Studium von Vor-/Nachwort während des Lesens hat mir dann aber einiges klar gemacht: Dort hebt der Autor sehr deutlich hervor, dass vor allem eine zeit- und luftkriegsgeschichtlichen Analyse und Aufarbeitung sein Ziel für Melittas Biographie war. Und dabei orientierte er sich ausschließlich an dem ihm vorliegenden Dokumentationsmaterial, was teilweise schon schwer zu beschaffen war und größtenteils von Melittas Schwestern stammte. Für eine weitergehende Betrachtungsweise fehlten ihm schlichtweg die dokumentarischen Grundlagen/Belege und nun kommt ein Punkt, der ihm wirklich hoch anzurechnen ist – er als Biograph setzt sich nicht darüber hinweg und präsentiert uns ein „öffentliches“ Bild, dass er und andere sich von Melitta Stauffenberg gemacht haben und möglichweise zeitgeistkonform ist. Mit diesen Fakten muss ich mich zufrieden geben, auch wenn ich gern mehr über diese Frau und die oben erwähnten Hintergründe erfahren hätte. Hier sind wir nun bei der offenkundigen Kritik an der Medicus-Biographie, die offenbar jegliche Sachlichkeit vermissen lässt und Spekulationen freien Raum gelassen hat. Aber dazu mehr im 6. Abschnitt!
Ich bin gespannt, wie Du dies beurteilst, Adaneth!
ZitatIch bin gespannt, wie Du dies beurteilst, Adaneth!
Ich bin da ganz bei dir. :-)
Bracke imponiert mir genauso wie dir. Er spekuliert nicht und man kann sich als Leser sehr gut eine eigene Meinung bilden, weil er die Fakten ausbreitet und man sich dazu seine eigenen Gedanken machen kann, anstatt vom Autor welche aufgezwungen zu bekommen.
ZitatSpannend fand ich eigentlich die Frage, wie sich diese außergewöhnliche Frau, die de facto seit den Nürnberger Rassegesetzen als "jüdischer Mischling" galt und zudem mit einem Regime kritischen Historiker verheiratet war, in der NS-Zeit diesen einzigartigen Status aufbauen konnte. Wie konnte sie tagtäglich derart an ihre physischen und psychischen Grenzen gehen, wie dieses Regime mit ihrer Arbeit an kriegsrelevanten, flugtechnischen Entwicklungen noch unterstützen? Hatte sie nie Angst, gab es niemals Gewissenskonflikte für sie?
Das ist auch meine Frage. Wie schafft man diesen Spagat? Einerseits wird sie durch ihre Arbeit auch ihre Familie (die Schillers) geschützt haben. Außerdem kann ich mir vorstellen, dass Göring da seine Hände im Spiel hatte - er war ja sehr verwundert und beeindruckt als er von ihren vielen Sturzflügen hörte. Außerdem weiß ich, dass ausgerechnet er und seine Frau einige jüdische Künstler "gerettet" haben. Von ihm stammt, glaube ich, der Ausspruch: Wer Jude ist bestimme ich. In der Sippenhaft und danach hat sich ein Gestapo- Mann für sie eingesetzt. Sie hatte also Hilfe von außen und sie hat ihre Chancen voll und ganz genutzt, um z.B. ihren Mann und seine Familie nach dem 20. Juli zu unterstützen. Wahnsinn - sie stellt sogar noch Forderungen ans Regime. Sie muss sehr von sich und ihrem Wert überzeugt gewesen sein - und furchtlos wie ich schon mal geschrieben habe.
Vielleicht hat sie das alles nicht für die Nazis gemacht, sondern für Deutschland? Bracke deutet sowas ja an. Und wenn man den "Polnischen Korridor" erlebt hat mit seinen Beschränkungen und z.T. Schikanen, dann sieht man vieles wohl ganz anders als wir Nachgeborenen.
Wir haben im anderen Thread überlegt ob sie ein Adrenalin-Junkie war, vllt hat sie mit dieser extremen physischen und psychischen Belastung die Angst bekämpft. Sich quasi betäubt, so dass sie nicht zum Nachdenken kam. Manche trinken, andere arbeiten bis zum Umfallen.
Mehr fällt mir im Moment grad nicht dazu ein. :-)
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Zitat von Adaneth im Beitrag #3Vielleicht hat sie das alles nicht für die Nazis gemacht, sondern für Deutschland? Bracke deutet sowas ja an. Und wenn man den "Polnischen Korridor" erlebt hat mit seinen Beschränkungen und z.T. Schikanen, dann sieht man vieles wohl ganz anders als wir Nachgeborenen. Wir haben im anderen Thread überlegt ob sie ein Adrenalin-Junkie war, vllt hat sie mit dieser extremen physischen und psychischen Belastung die Angst bekämpft. Sich quasi betäubt, so dass sie nicht zum Nachdenken kam. Manche trinken, andere arbeiten bis zum Umfallen.
Auch wenn wir in diesem Buch quasi nichts über ihre politische Einstellung erfahren, so wird ja doch am Rande angedeutet, dass ihr Mann zumindest anfangs gegen die Nazis gewettert hat. Und auch bei familiären Treffen mit den Brüdern wird sicher so manches diskutiert worden sein. Ich bin mir daher auch ziemlich sicher, dass sie ihre Arbeit nicht für die Nazis getan hat. Aber kommt man nicht als Entwicklerin von Techniken zur Bombentreffergenauigkeit in große Konflikte, wenn man weiß, welches Leid durch die Bombardierungen unter den Zivilisten angerichtet wird? Andererseits war sie ja in diesem System gefangen!
Sehr gut hat Bracke durch die Tagebucheinträge zeigen können, wie extrem Melitta unter Druck stand auch schon vor den Attentatsplänen. Nach ihrer Haftentlassung muss das Ganze aber wirklich kaum noch für sie erträglich gewesen sein. Die permanente Angst um die Familie und ihren Mann hat sie angetrieben, sie hat ja nichts unversucht gelassen, um ihnen zu helfen, und all der Stress hat sie leider auch unvorsichtig werden lassen. Sonst wär ich das mit dem Abschuss wohl nicht passiert, denke ich!
ZitatAber kommt man nicht als Entwicklerin von Techniken zur Bombentreffergenauigkeit in große Konflikte, wenn man weiß, welches Leid durch die Bombardierungen unter den Zivilisten angerichtet wird?
Das war ja eigentlich der große Unterschied zwischen der dt Luftwaffe und der amerikanischen und englischen. In Dtl. wollte man Objekte wie zB Brücken, Fabriken etc. mit den Sturzkampfbombern sehr genau treffen und zerstören. Der Rest drumherum sollte nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Und deshalb waren die Visiere so wichtig, damit man die Trefferquote erhöhen konnte. Anders die Alliierten, die auf Flächenbombardements setzten und damit letztlich den größeren Schaden anrichteten. Ob sie damit den Krieg gewannen weiß ich nicht.
Ich hab gestern ein bisschen bei Tante Wiki nachgelesen, dass Göring und Co wohl erkannten, dass sie aufs falsche Pferd gesetzt hatten, es aber zu spät war, um noch grundlegend etwas zu ändern.
Hat sich im Krieg eigentlich wirklich einer Gedanken gemacht, ob die Bevölkerung leidet? Den Kriegsherren aller Länder war das wohl egal. Und die Menschen in allen Ländern waren wahrscheinlich so mit sich beschäftigt, dass sie sich über den "Feind" gar keine Gedanken machten.
Mal in unsere heutige Zeit geblickt - es wird viel in den Medien berichtet wie Näherinnen in Pakistan und anderen Ländern ausgebeutet werden, aber wieviele Menschen hier bei uns machen sich dazu Gedanken und ändern auch noch ihr Verhalten? Nahc jedem Lebensmittelskandal ist das Geschrei groß, aber dann wird doch wieder das billige Fleisch etc gekauft und geschimpft, wenn ein paar Cent aufgeschlagen wird. Wie werden unsere Nachkommen in sagen wir mal 70 Jahren über uns urteilen? Wieviele von uns denken nach?
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