Heute stelle ich Euch das Buch “In einem Land vor meiner Zeit“vor, dass mich mehr als jedes andere der letzten Jahre persönlich berührt und entführt hat. Ein Jugendbuch und Thema abseits des Mainstreams, denn mit der "Verpackung" Zeitreise behandelt es ein wichtiges Thema unserer deutschen Geschichte, das Leben als Teenagern in der DDR
Rezension:
Der Abend vor dem 14. Geburtstag eines jeden Mädchens ist an sich ja schon sehr aufregend, denn man fiebert den bevorstehenden Veränderungen entgegen, die ab morgen (mit 14!) für einen selbst und hoffentlich auch für andere wahrnehmbar sein werden. Bereits seit dem Nachmittag hat Alina sich ausgiebig mit den Tagebüchern ihrer Mutter Antje beschäftigt, die sie ihr mit dem Hinweis überreicht hat, doch mal darin zu stöbern wie es zu ihrer Zeit mit 14 so war.
Naja, so richtig interessante oder coole Sachen konnte sie in den nüchternen Aufzeichnungen bisher nicht entdecken, zumal es für Alina so rüberkommt, als wäre ihre Mum in einem anderen Jahrtausend und in einem völlig anderen Land aufgewachsen. Okay, irgendwie ist das ja auch so, denn ihre Mum Antje wuchs in den 1980-ern in der ehemaligen DDR auf! Wahnsinn, was es damals alles noch nicht gab und was man als Kind nicht durfte, das Leben ihrer Mum kommt ihr total weltfremd und spießig vor. Jetzt denkt sie bei sich „...ob Mum da nicht ein wenig zu sehr übertrieben hat“?
Kopfschüttelnd über die eine oder andere Passage und die komischen Redewendungen versucht Alina ihre Gedanken lieber wieder auf das wirklich aufregende Ereignis ihres morgigen Geburtstags zu lenken. Ob ihr Schwarm ihr gratulieren wird? Weiß er überhaupt, dass sie morgen 14 wird? Noch in diese Überlegungen vertieft und erfüllt mit großer Vorfreude, übermannt sie die Müdigkeit und sie sinkt in einen tiefen Schlaf direkt über den Tagebüchern ihrer Mutter... Am nächsten Morgen wird sie unsanft geweckt und traut ihren Augen und Ohren nicht! Wer um himmelswillen hat ihr Zimmer in der Nacht so grauenvoll umdekoriert und zu wem gehört diese unfreundliche Männerstimme im Flur, die keinerlei Rücksicht und Respekt auf ihren heutigen Status als Geburtstagskind erahnen lässt?! Immer noch schlaftrunken stolpert Alina durch ihr Zimmer in Richtung Tür, um sich nach dem Verlassen ihres Zimmers einer völlig veränderten Realität, der Realität aus den Tagebüchern ihrer Mutter, gegenüber zu sehen. OH MEIN GOTT! Was ist hier passiert? Schlechter Scherz?! Als ihr dann auch noch ihre ältere Schwester Yvi in der Ausgabe einer Jugendlichen entgegen kommt, zweifelt Alina an ihrer Gehirnleistung. Auf gar keinen Fall..., das ist nur ein Traum, bitte kneift mich mal jemand. HILFE...
Aber es will einfach nicht klappen, dass sich diese Umgebung in Luft auflöst. Als sie an sich runter sieht durchzuckt es sie wie ein Blitz und ihr geht auf, dass sie scheinbar keiner Illusion aufgesessen ist. Denn ab sofort steckt Alina‘s Bewußtsein im Körper ihrer Mutter Antje fest und muss sich behaupten als Zahnrad einer gnadenlosen Maschinerie eines fremdem Landes, der DDR mitten im Jahr 1984...
Wie soll sie das nur hinkriegen!? Wer kann ihr jetzt beistehen!?
Mein Fazit:
Wie beginne ich meine Gedanken zu diesem Buch sinnvoll zu ordnen und einen Eindruck, den ich kaum in Worte fassen kann, als Rezension zu verfassen?
„In einem Land vor meiner Zeit“ ist mir mal wieder als eines der Schätze einer Leserunde in‘s Haus geflattert! Als ich den Klappentext gelesen und das Cover gesehen hatte, war mir eines sofort klar: Das Buch muss ich lesen. Am besten sofort! Schon die Gestaltung der Frontseite mit typischen Relikten meiner Jugend in der DDR ließ mein Herz Purzelbäume schlagen. Bis auf die unpassend quietschig gelbe Hintergrundfarbe, ist es schon beim Anblick eine gute Einstimmung auf die zu erwartende Zeitreise zurück in die 1980-er Jahre. Bereits der Klappentext verspricht eine turbulente und emotionale Zeitreise, eine unfreiwillige Erfahrung für die 14-jährige Alina, die wohl behütet im wiedervereinten Deutschland nur vage Einblicke in das Leben zu Zeiten der DDR, durch Zeitzeugenberichte ihrer Mutter Antje, hat.
Ina Raki entführt mit ihrem Debütroman gekonnt und unverblümt in eine kontroverse Leseerfahrung, nimmt sich einer Thematik im Jugendliteratursektor an, die kaum bedient wird. Sie (be)schreibt mit viel Herz, Hingabe, Einfühlungsvermögen, aber ebenso nüchtern, ehrlich und mit Nachdruck, wie es die jeweiligen Situationen verlangen, um das Leben in der damaligen Zeit aufzuzeigen. Ausgestaltet in Form paralleler Tagebucheinträge von Mutter und Tochter, zusätzlich mit graphischen Elementen aufgepeppt, findet sie mit ihrer Art der witzreichen, teilweise lakonischen und absolut jugendlichen Sprache zu formulieren, den richtigen Ton um den Leser in eine Welt zu schicken, die gegensätzlicher zur Gegenwart kaum sein könnte. Ich durfte die Hauptperson des Buches, den Teenager Alina, auf 280 Seiten bei einer einmaligen und wohl spektakulären Erfahrung, die seinesgleichen sucht, begleiten. Zu Beginn der Geschichte begegnete mir ein aufgeschlossener und an den Luxus der heutigen Zeit gewöhnter Teenager, damit vertraut seine Rechte und Bedürfnisse einzufordern und zu (er)leben. Doch kurz nach der Ankunft im Leben und Körper ihrer Mutter, vor 30 Jahren, in einer Welt so unbeschreiblich bedrückend und diktiert, beginnt die Fassade ihrer gewohnten Coolness und Selbstsicherheit sehr schnell zu bröckeln.
Man folgt Alina auf leisen Sohlen in eine Handlung, die sofort polarisiert und den Leser zwingt sich auseinander zusetzen mit Entscheidungen, die Tragweite und Intensität haben, die weder Alina in ihrer Unwissentheit, noch Leser ohne Wurzeln in der DDR erahnen können. Langsam bekommt man eine schemenhafte Ahnung wie das Diktat und die Bevormundung durch ein totalitäteres System einen ganzen Staat zusammenhielt, man sieht bruchstückhaft imaginäre Grenzen und Mauern auftauchen, geht ängstlich in Deckung, um vor drastischen Strafen geschützt zu sein.
Immer tiefer gerät man hinein, in einen Überlebenskampf mit ungewissen Ausgang. Nur eine Botschaft signalisiert Alina immer wieder überdeutlich wie ein Leuchtfeuer, egal aus welcher Perspektive man es auch betrachtet: Anpassung ist die wichtigste Regel um unbeschadet aus der Nummer rauszukommen! Man muss schnell lernen und wachsen um zu überleben in einer Welt die keine individuellen Alleingänge duldet. Das gelingt dem Charakter Alina ganz offensichtlich und bemerkenswert, denn sie lernt ihre Lektionen schnell. Es bleibt keine Zeit für verklärte Momente.
Die ganze Handlung wird immer wieder von DDR-typischen Passagen, Worten und sächsischen Ausdrücken durchzogen, sodass es Lesern mit keinerlei Vorkenntnisse zu dieser Region schwer fallen wird, dem Buch problemlos zu folgen. Dafür eröffnet sich aber im Anhang ein Dolmetscher zu diesen Begriffen/Zeit und man kommt somit recht schnell hinter die Geheimnisse der Sprache. Emotional ist dieses Buch mit zweierlei Maßstab zu bewerten. Auf der einen Seite, für mich persönlich sehr nahegegend und desöfteren Momente eines Schauers auf der Haut auslösend, da Ina Raki ihre Geschichte in einer Epoche (m)eines Lebens angesiedelt hat, die ich genau so als Kind in der DDR miterlebt habe. Daher hatte ich eine hohe Erwartungshaltung an das Buch, ging es doch für mich um verschüttete Erinnerungen oder auch neue Erkenntnisse dieser Zeit. Das konnte dieses Buch wirklich komplett erfüllen und setzte mich während des Lesens enormen Achterbahnfahrten meiner Gefühle aus.
Aber auch wenn man diese Zeit und das Land nicht kennengelernt hat, kann man sich auf spannende, tief bewegende und ebenso herzerwärmende Momente freuen und sicher auch eine ganze Menge lernen, über ein Land und ein System das vielen Deutschen noch vor etwas mehr als 20 Jahren ein Zuhause war.
Ich denke dieses Buch wird, was die Gefühlskomponente angeht, von keinem anderen Buch auch nur annähernd eingeholt werden, denn ich habe mich zurückversetzt gefühlt in eine sehr intensive und prägsame Zeit meines eigenen Lebens! Danke für diese wunderbare Erfahrung Ina Raki! Kurz gesagt: Dieser Debütroman trägt eine große Botschaft! Hier wird mit fundiertem Zeitzeugen Wissen zu einem wichtigen Abschnitt deutscher Geschichte unterhalten. Aus 2 verschiedenen Perspektiven wird absolut greifbar, berührend und für Jugendliche zeitgemäß präsentiert und aufgezeigt, was so niemals in Schulbüchern, die hauptsächlich auf Fakten ausgelegt sind, zu finden ist. Daher ist es auch bestens als ergänzende Unterrichtslektüre geeignet. Auch Erwachsenen möchte ich zu diesem Buch raten, sofern man mit jugendlicher Schreib-und Ausdrucksweise kein Problem hat. Die DDR mal anders erleben und vielleicht ein Stück besser verstehen, dabei hilft dieser Roman! Eine wirklich unglaubliche Art der Zeitreise, die im Konzept und in ihrer Gesamtheit, über kleine Ungereimtheiten und kurzzeitige Phasen von eintönigem Schulalltagsbeschreibungen hinwegsehen lässt und voll punkten kann.