Ich will es mal so formulieren: Einige der im Buch beschriebenen Szenen hat vielleicht jeder einmal in der ein oder anderen Form – mehr oder weniger schlimm – erlebt. Ungerechtigkeiten, Hänseleien, Mobbing… Davon kann auch ich mich nicht freisprechen. Allerdings ist „Vergeltungsschlag“ keine Autobiographie – also, nicht die meine.
@Sven: Da ich ja schon mal in die Rolle des Straftäters Edgar Tess geschlüpft bin, lässt sich deine Frage zumindest imaginär mit einem „Ja“ beantworten. In Wirklichkeit habe ich ausschließlich den realen Namen eines Mörders verwendet, den Gerd für sich als Nic-Name nutzt. Demnach gab es keine Kontakte zu irgendwelchen Verbrechern.
Hallo an die eingeschworene Gemeinschaft und eine Dankeschön in die Runde, dass sich alle mit solch kontroversen und schmerzenden Themen befassen. Ich vertrete hier quasi den Verlag. Also wenn es diesbezügliche Fragen und Anregungen gibt...
Was Dirk gerade angesprochen hat, ist vielleicht sehr wichtig: Einzeln und mitunter in abgeschwächter Form sind uns alle derlei Ereignisse schon einmal begegnet. Das macht das Buch so wertvoll. Im Endeffekt ist Tobi ein Mensch wie Du und ich. Soziale Konstellationen, wie Vater im Knast und Mutter drogenabhängig... würden die Tragödie viel weiter weg transportieren. Aber jeder Mensch kann das erleben, immer und überall kann jene Wahrnehmungsverschiebung eskalieren. Am Ende des Buches, so viel kann man vorwegnehmen, wird dem Leser nicht nur klar, warum es passierte, sondern es wird auch nachvollziehbar, wieso keiner was gemerkt hat...
Zitat von ToMWas Dirk gerade angesprochen hat, ist vielleicht sehr wichtig: Einzeln und mitunter in abgeschwächter Form sind uns alle derlei Ereignisse schon einmal begegnet.
Das kann ich bestätigen. Ich finde es erstaunlich von Dirk, wie schnell er beim Leser schon in den ersten drei Kapiteln ein Gefühl für Tobias Denken aufkommen lässt - oder besser, wie er dafür sorgt, dass der Leser meint eines zu bekommen. Denn schon zwischen diesen frühen Zeilen (und wenn man den Text der Buchrückseite bereits kennt) lässt sich viel herauslesen. Ich denke mal, gerade dieses "Gefühl bekommen" oder "Gefühl zu bekommen meinen" liegt eben daran, dass praktisch jeder schon von solchen Szenen zumindest gehört hat, wenn er nicht sogar selbst in der einen oder anderen Form damit zu tun hatte.
Zitat dass praktisch jeder schon von solchen Szenen zumindest gehört hat, wenn er nicht sogar selbst in der einen oder anderen Form damit zu tun hatte.
In dem Sinne gibt es diejenigen, die es erlebt haben, sowie solche, die es denjenigen, die es erlebt haben, zufügten. Letztendlich bestehen diese Erlebnisse aus Fragmenten, die der Gepeinigte erlebt. Es steckt eine gewisse Systematik dahinter, die wiederum einer solchen nicht entspricht. Eben eine Aneinanderreihung schicksalhafter Ereignisse.
Ich würde so weit gehen, dass wir alle drei Positionen kennen. Die des Opfers, die des Täters und die des stillen Beobachters solcher Ereignisse. Natürlich nicht in diesen konkreten Szenen, wie im Buch, aber eben so: Uns wurde zugefügt, wir haben zugefügt und wir haben dabei zugeschaut. Jeder. Die Ereignisse mögen anders geartet sein und vielleicht eine andere Intensität haben, aber sie haben die selben Wunden hinterlassen. Der eine dreht ab, wenn seine Mutter stirbt, der andere, wenn sein Lieblingshaustier stirbt, der eine hat einen Frosch umgebracht, der andere dem ekligen Typen von nebenan die Reifen seines Fahrrads zerstochen.
Charaktere erfüllen für mich primär die Funktion, einen Text/ihre Welt zu bevölkern. Ein eventuell überzeichnetes Verhalten dient meines Erachtens dem Ziel, dem generellen Gedankengang des Autors zu folgen. In genug Thrillern werden übertrieben brutale Szenen beschrieben, um eine harte, sadistische Rache zu rechtfertigen. Auch wenn ich keine Familie kenne, die in ihrem Verhalten auch nur annähernd der von Tobias ähnelt, hat Dirk die Charaktere exzellent gezeichnet, um das Räderwerk des Amoklaufs zu beschreiben, die Form der Zahnräder, ihr Zusammengreifen, die Reibungsenergie, die Spannung des zerreißenden Materials.
Bzgl. der Erinnerung von Tobias möchte ich anmerken, dass meiner Erfahrung nach weder die Wortwahl noch die beschriebenen, teilweise sehr fein beobachteten Einzelheiten der Wahrnehmung eines Achtjährigen entsprechen. Die Wortwahl könnte man dadurch erklären, dass es sich bei den Rückblenden um Erinnerungen des sich in der Gegenwart erinnernden Tobias handelt, Bilder aus der Vergangenheit also, die er mit seinem reiferen Wortschatz ausfüllt. Die Erinnerungen selbst aber bleiben zu differenziert; der gegenwärtige Tobias sollte sich nicht in der beschriebenen Form an all die Einzelheiten erinnern können. Demnach müssten die basalen Erinnerung des Achtjährigen von dem gegenwärtigen Tobias angereichert und somit verzerrt worden sein.
Es kann sein, dass ich jetzt nicht mit Dirk konform gehe, aber diese Perspektive hat für mich ihren Reiz: Haben sich die Dinge in Wirklichkeit gar nicht wie beschrieben zugetragen, würde es bedeuten, dass 1.) Tobias Familie in Wirklichkeit nicht so extrem war wie beschrieben und somit beliebiger, 2.) die extreme Verzerrung Tobias' Erinnerung an seinen tiefen Schmerz als Achtjähriger entwächst und 3.) als Humus für die ebenfalls übertriebene Entscheidung zum Amoklauf dient.
Für den Protagonisten ist es logisch, für den Leser auch.
Tobias erzählt die Geschichte des 8-jährigen Tobias aus der Sicht des 17-Jährigen. Natürlich verzerrt sich dadurch die Realität aufgrund gewonnener Lebenserfahrung. Der „kleine“ Tobias besitzt nicht das Spektrum eines Jugendlichen. Der 8-Jährige würde davon sprechen, dass Papa ihn gehauen hat. Im Laufe der Jahre gewinnt er an Wissen, Dinge detailierter zu differenzieren. Was damals „hauen“ war, verändert sich über „schlagen“ bis hin zu „quälen“ oder „missbrauchen“. Der jugendliche Tobias wertet diese Begriffe, wonach er sie der Bedeutsamkeit einstuft. Dazu spielt sein labiler Charakter eine große Rolle, der sein Leben ohnehin schon aus der pessimistischen Perspektive betrachten lässt.
da ist mir doch jetzt erst eine Sache aufgefallen, zu der ich Dir eine Frage stellen möchte: praktisch alle Kapitel bzw. Tagebucheinträge, beginnend 1998 und endend 2008, spielen im Frühling bis Sommer; wenn ich das richtig gesehen habe, zwischen April und August des jeweiligen Jahres, wobei die Hauptlast auf Mai und Juni zu liegen scheint ... Verbirgt sich hierin ein tieferer Sinn, und wenn ja, worin? Hat dieser Jahresabschnitt für Dich eine besondere Bedeutung?
Einen wirklich tieferen Sinn gibt es nicht! Der zweite Satz des Buches lautet: "Die verdammte Hitze ist schier unerträglich." Und diese Hitze sollte sich eigentlich durch alle Kapitel ziehen. Ich ducke mich, denn jetzt, wo du das ansprichst, denke ich: ...da war doch noch was... Ja, kalt erwischt! Diesen roten Faden hätte ich tatsächlich etwas forcierter durchlaufen lassen sollen! Es gibt ja viele Szenen die draußen spielen. Das war ein weiterer Hintergrund, für die Geschichte die Sommermonate zu wählen.
Zur Frage nach der Erzählperspektive: Da habe ich mir auch den Kopf zerbrochen. Aber es funktioniert dank Dirks, mit Verlaub, unfreiwilligem Kunstgriff, dass wir ja eine Art Tagebuch eines 15- 17jährigen lesen, das zudem von ihm in latent schriftstellerischer Absicht verfasst wurde. Somit sind Details aus der Vergangenheit und die Sprache durchaus realistisch. Zudem ist es im Verlauf des Buches immer deutlicher, dass dieses Tagebuch auch eine subjektive Darstellung von erfahrener Gewalt ist. Wenn am Ende alle Mitmenschen Arschlöcher, anonyme Schnarchnasen und hässliche primitive Monster werden... was ja auch eine Voraussetzung für den Amoklauf ist...
da ich nicht mehr damit rechne, dass hier noch Beiträge geschrieben werden, möchte ich mich an dieser Stelle nochmal aufrichtig bei allen Beteiligten und besonders bei Dirk Radtke für die Leserunde bedanken. Ich hoffe, es war für Euch auch so interessant wie für mich, auch mal einen Blick hinter die Gedanken zu werfen, die sich ein Autor zu seinem Werk macht.